Das müssen Sie wissen, bevor Sie über die Sozialhilfe abstimmen


Das Kanton Bern steht vor einer der umstrittensten Abstimmungen der letzten Jahren. Wer mitreden will, sollte diese Zahlen und Fakten kennen.

Von Fabian Christl (Text) und Christian Zellweger (Umsetzung)

Am 19. Mai befinden die bernischen Stimmberechtigten über die Sozialhilfe. Zur Auswahl stehen die Revision des Sozialhilfegesetzes (SHG-Revision), der Volksvorschlag «für eine wirksame Sozialhilfe» sowie der Status Quo. Antworten auf die wichtigsten Fragen sowie Links zu weiterführenden «Bund»-Artikeln finden Sie im Folgenden zusammengefasst.

Falls Sie eine Übersicht über alle im «Bund» erschienenen Artikel zum Thema wünschen, finden Sie diese im entsprechenden Dossier auf unserer Webseite.

1. Was will die Revision des Sozialhilfegesetzes?

Die SHG-Revision sieht eine Senkung des Grundbedarfs vor. Dieser soll künftig für alle Bezügerinnen und Bezüger 8 Prozent unter den Empfehlungen der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) liegen. Für junge Erwachsene und vorläufig Aufgenommen sind gar Kürzungen um 15-30 Prozent vorgesehen. Mit dem Grundbedarf müssen sämtliche Ausgaben für Nahrung, Kleidung, Haushalt, Mobilität, Internet, Fernsehen, Handy und Freizeit finanziert werden. Heute beträgt er im Kanton Bern für eine Einzelperson 977 Franken, künftig sollen es 907 Franken sein.

Als Kompensation der Kürzungen sollen im Gegenzug die Anreizleistungen erhöht werden. Um wie viel, wird erst nach der Abstimmung mittels einer Verordnung definitiv geregelt. Laut der Gesundheits- und Fürsorgedirektion (GEF) von Regierungsrat Pierre Alain Schnegg (SVP) dürfte die Integrationszulage (IZU) von 100 Franken auf 200 Franken erhöht werden, in Ausnahmefälle wären sogar 300 Franken möglich. Es sollen aber weniger Bezügerinnen und Bezüger eine Integrationszulage erhalten als heute.

Der Einkommensfreibetrag (EFB) soll zwar nicht erhöht werden, künftig soll der maximale EFB aber unbefristet bezogen werden können, und nicht nur für die ersten sechs Monate nach Arbeitsaufnahme beziehungsweise Eintritt in die Sozialhilfe.

Vorgesehen ist weiter, dass ein Teil der durch die Kürzungen eingesparten Gelder in Eingliederungsmassnahmen investiert wird. Wie viel, hängt vom Spareffekt der Vorlage ab. Dieser wird auf 8-19 Millionen Franken geschätzt. Laut den jüngsten Informationen der GEF, sollen fix 10 Millionen Franken eingespart werden. Falls die Einsparungen höher liegen, würde der Rest reinvestiert.

2. Was will der Volksvorschlag?

Der Volksvorschlag verlangt, dass der Grundbedarf nach den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) ausgerichtet wird. Diese sollen einen schweizweit einheitlichen Umgang mit den Bedürftigen ermöglichen. Aktuell richtet der Kanton den Grundbedarf nach veralteten Skos-Richtlinien aus, welche die Teuerung der letzten Jahre nicht beinhalten. So beträgt der Grundbedarf für eine Einzelperson im Kanton Bern 977 Franken, während die Skos 986 Franken empfiehlt. Mit dem Volksvorschlag würde also der Grundbedarf leicht erhöht.

Zudem sieht der Volksvorschlag eine Besserstellung der älteren Arbeitslosen vor. Diese sollen statt Sozialhilfe Ergänzungsleistungen bekommen. Der Grundbedarf bei den Ergänzungsleistungen beträgt 1620 Franken pro Monat. Von der Besserstellung sollen aber nur Personen profitieren können, die erst im Alter von 55 Jahren oder später ihre Stelle verloren haben, schon länger im Kanton Bern wohnhaft sind und während 20 Jahren Geld in die Arbeitslosenkassen einbezahlt haben.

Als dritter Punkt fordert der Volksvorschlag Qualifizierungsmassnahmen für die Bedürftigen. Also, dass man den Bezügerinnen und Bezügern von Sozialhilfe stärker als heute ermöglicht, Ausbildungen zu machen, die ihre Chancen auf eine Arbeitsstelle erhöhen.

Der Volksvorschlag hätte jährliche Mehrkosten in der Höhe von 17-28 Millionen Franken zur Folge.

3. Wer bezieht überhaupt Sozialhilfe?

Im Kanton Bern beziehen 42'700 Personen Sozialhilfe. Die Quote beträgt 4,2 Prozent - und liegt somit um ein Prozentpunkt höher, als im schweizerischen Schnitt.

Weitaus das grösste Risiko für Sozialhilfeabhängigkeit besteht für Alleinerziehende. Die Quote beträgt dort 30 Prozent – von zehn Alleinerziehenden werden im Kanton Bern also drei ganz oder teilweise von der Sozialhilfe unterstützt. Bei alleinerziehenden Müttern unter 25 Jahren ist die Quote nochmals massiv höher. Generell ist die Sozialhilfequote von Familien höher als die von kinderlosen Haushalten.

Das Risiko, von der Sozialhilfe abhängig zu werden

Vor allem Alleinerziehende risikieren, Sozialhilfe beziehen zu müssen

Auch Ausländer sind in der Sozialhilfe überproportional vertreten. Sie machen 43,4 Prozent der Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger aus, bilden aber nur 16 Prozent der bernischen Gesamtbevölkerung. Nicht einberechnet sind Asylsuchende und abgewiesene Asylbewerber. Anerkannte Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene erscheinen erst nach fünf respektive sieben Jahre in der Statistik – vorher ist der Bund für die Finanzierung zuständig.

Wer im Kanton Bern Sozialhilfe bezieht

Ein Drittel der Sozialhilfebezüger sind jünger als 17 Jahre

Knapp ein Drittel der Sozialhilfebeziehenden sind Kinder und Jugendliche. Von den Bezügerinnen und Bezügern im erwerbsfähigen Alter (15–64 Jahre) sind 29 Prozent bereits erwerbstätig, aber verdienen nicht genug, um ihren gesamten Bedarf zu decken. Weitere 36 Prozent gelten als temporär erwerbsunfähig. Es handelt sich um Kranke, Drogenabhängige, Alkoholiker und Leute, die etwa aufgrund Kleinkinder (<1 Jahr) derzeit keine Erwerbsarbeit aufnehmen können.

Stark überproportional vertreten sind zudem Personen ohne Berufsabschluss. Sie machen knapp die Hälfte der Bezügerinnen und Bezüger aus. Diese Gruppe hat es auf dem Arbeitsmarkt besonders schwer, weil viele Stellen für Niedrigqualifizierte ins Ausland verlagert wurden oder der Digitalisierung zum Opfer fielen.

4. Was erhalten Sozialhilfebezüger heute, was erhalten sie in Zukunft?

Sozialhilfebezügerinnen und -Bezüger erhalten die Gesundheitskosten und die Wohnkosten (bis zu einem kommunal festgelegten Betrag) erstattet. Daran ändern weder SHG-Revision noch Volksvorschlag etwas. Ebenso werden den Bedürftigen über die so genannten situationsbedingten Leistungen gewisse weitere Kosten erstattet. Dazu gehören etwa zwingend nötige Zahnbehandlungen.

Zudem erhalten sie einen Grundbedarf. Dieser beträgt heute für einen Einpersonen-Haushalt 977 Franken, für eine Familie mit zwei Kindern 2090 Franken. Der Grundbedarf kann frei eingeteilt werden. Folgende Tabelle zeigt, was damit finanziert werden soll und wie viel Geld für die verschiedenen Ausgabenposten vorgesehen ist:

Was ein Einpersonenhaushalt zur Verfügung hat

Nach aktuell gültigem Gesetz

Die SHG-Revision sieht eine Kürzung des Grundbedarfs um in der Regel 8 Prozent vor. Ein Einpersonen-Haushalt hätte demnach noch 907 Franken pro Monat, eine vierköpfige Familie noch 1941 Franken.

Der Volksvorschlag möchte den Grundbedarf streng nach den Skos-Richtlinien ausrichten. Ein Einpersonen-Haushalt erhielte demnach 986 Franken, eine vierköpfige Familie 2110 Franken.

Die SHG-Revision sieht zudem eine Erhöhung der Anreizleistungen vor. So soll etwa der maximale Einkommensfreibetrag von 600 Franken unbefristet bezogen werden können. Heute sinkt der Freibetrag sechs Monate nach Arbeitsaufnahme bzw. Eintritt in die Sozialhilfe auf 400 Franken. Die Integrationszulage soll wieder auf 200 Franken erhöht werden.

Der Volksvorschlag geht nicht explizit auf die Anreizleistungen ein. Da er sich aber explizit auf die Skos-Richtlinien bezieht, gehen Experten davon aus, dass er auch eine Erhöhung der Anreizleistungen im gleichen Umfang wie die SHG-Revision zur Folge hätte.

Folgende Infografiken zeigen einige Rechenbeispiele, wie sich SHG-Revision und Volksvorschlag auswirken würden:

Was eine vierköpfige Familie zur Verfügung hat

gemäss gültigem Gesetz

Was Junge und Alleinerziehende zu Verfügung haben

gemäss gültigem Gesetz

Was Alleinstehende zur Verfügung haben

gemäss gültigem Gesetz

5. Was spricht für die Revision und was dagegen?

Die SHG-Revision ist eine Sparvorlage. Durch die Kürzung sollen Kanton und Gemeinden je 4-5 Millionen Franken einsparen. Dies weil in den letzten 15 Jahren die Sozialhilfe-Kosten gestiegen sind, wie folgende Grafik illustriert:

Kosten und Bezüger in der Sozialhilfe

Trotz konstanter Bezügerzahlen steigen die Kosten.

Zudem will die SHG-Revision die Sozialhilfe unattraktiver machen, damit sich die Aufnahme einer Erwerbsarbeit für Bezügerinnen und Bezüger stärker lohnt. Familien ab 4 Personen, die von der Sozialhilfe abhängig sind, haben heute in gewissen Fällen gleichviel oder sogar mehr Geld zur Verfügung, als erwerbstätige Familien ohne Anspruch auf Sozialhilfe. Das zeigt etwa dieses, von der Gesundheits- und Fürsorgedirektion konzipierten Beispiels:

Wenn sich Arbeit nicht mehr lohnt

Schwelleneffekte in der Sozialhilfe sind möglich.

Dank höheren Anreizleistungen kann zudem stärker zwischen den verschiedenen Bezügerinnen und Bezügern differenziert werden. Wer erwerbstätig ist oder an einem Beschäftigungsprogramm teilnimmt, wird künftig stärker belohnt. Das entspricht den Gerechtigkeitsvorstellungen der Gesellschaft.

Gegen die Revision spricht, dass die Sozialhilfe schon heute knapp bemessen ist. In den letzten Jahren wurden die Beiträge schon mehrmals gekürzt. Gerade für soziale Aktivitäten bleibt kaum Geld. Eigentlich sollte der Grundbedarf dem entsprechen, was die 10 Prozent einkommensschwächsten Haushalte für die notwendigen Dinge ausgeben. Nach dieser Logik ist der Grundbedarf schon heute rund 100 Franken zu tief bemessen.

Fraglich ist zudem, ob es den Bezügerinnen und Bezügern überhaupt an Anreiz mangelt. So bekunden Firmen keine Mühe, ihre Stellen für Niedrigqualifizierte zu besetzen. Die Arbeitslosigkeit beträgt in diesem Sektor bereits über 10 Prozent.

Letztlich hilft die Revision auch nicht, das Problem der Schwelleneffekte zu reduzieren. Durch die Kürzung würden gerade erwerbstätige Sozialhilfeempfänger ihren Anspruch auf Sozialhilfe verlieren. Die Differenz zwischen Familien in der Sozialhilfe und solchen, die knapp keinen Anspruch geltend machen können, vergrössert sich durch die SHG-Revision nicht. Ökonomen gehen zudem davon aus, dass bei einer Kürzung der Sozialhilfe auch die tiefen Löhne unter Druck kommen könnten.

6. Was spricht für den Volksvorschlag, und was dagegen?

Der Volksvorschlag verhindert einen Standortwettbewerb, in dem sich die Kantone gegenseitig mit Verschärfungen zu überbieten versuchen, in dem er die Sozialhilfe streng nach Skos-Richtlinien bemessen will. Er sorgt also dafür, dass der nationale Konsens zumindest vorderhand nicht infrage gestellt wird.

Zudem nimmt sich der Volksvorschlag dem Umstand an, dass die Klientel der Sozialdienste meist schlechter ausgebildet ist, als vom Arbeitsmarkt gefordert. Dies in dem er Qualifizierungsmassnahmen explizit ins Gesetz schreibt.

Schliesslich trägt er dem Umstand Rechnung, dass der soziale Fall bei über 55-Jährigen Langzeitarbeitslosen meist grösser ist, als bei Jüngeren. Die Leute, die in diesem Alter auf Sozialhilfe angewiesen sind, haben häufig lange gearbeitet und gewisse Reserven gebildet. Heute müssen sie das ganze Ersparte (bis auf 4000 Franken) aufbrauchen, bis sie Unterstützung erhalten. Die über 55-Jährigen sind zudem die am stärksten wachsende Gruppe in der Sozialhilfe.

Gegen den Volksvorschlag sprechen die Kosten. So führt die Vorlage zu Mehrkosten in der Höhe von 17-28 Millionen Franken - und das, obwohl die Sozialhilfekosten ohnehin steigen.

Auch die geforderte Besserstellung der Ü-55-Jährigen führt zu Ungerechtigkeiten. Wer etwa selbstständig ist, bezahlt kein Geld in die Arbeitslosenkasse. Dies ist aber Bedingung, um von der Besserstellung profitieren zu dürfen. Zudem ist die Sozialhilfe ein Bedarfssystem, keine Versicherung. 60-Jährige haben aber keinen anderen Bedarf als 50-Jährige.

Schliesslich wird argumentiert, dass die Besserstellung dazu führen könnte, dass Unternehmen ältere Leute schneller entlassen könnten. Und umgekehrt, dass sich die Bessergestellten weniger um Arbeit bemühen würden, weil sie dank Ergänzungsleistungen bereits ein angenehmes Leben führen könnten.

Gab es nicht Uneinigkeiten betreffend den Kosten des Volksvorschlags? Doch. Folgende Artikel helfen weiter:

7. Wie positionieren sich die Parteien?

Die Parolen der Parteien

Die meisten Parteien empfehlen nur eine Vorlage
ParteiRevisionVolksvorschlag
SVPJaNein
SPNeinJa
FDPJaNein
GrüneNeinJa
BDPJaNein
GLPNeinNein
EVPNeinStimmfreigabe
EDUJaNein
ALNeinJa
CVPNeinJa

8. Was ist die Meinung der «Bund»-Redaktion?

Der «Bund» empfiehlt, beide Vorlagen abzulehnen.