Seit 1877 erhebt das Bundesamt für Statistik (früher Eidgenössisches Statistisches Büro ) die Todesfälle in der Schweiz nach Ursachen. Allerdings war die Grippe, auch Influenza genannt, Ende 19. Jahrhundert noch nicht Teil des obligatorischen Todesursachen-Katalogs. Die Zahl der Opfer durch die Russische Grippe haben wir daher dem Werk von Friedrich Schmid aus dem Jahr 1895 entnommen. Gemäss dem damaligen Chef des Statistischen Büros sind auf dem Höhepunkt jener Pandemie 1890 laut ärztlicher Bescheinigung 2624 Menschen an Influenza gestorben.
In der offiziellen Statistik wurden damals nur einige Hundert Todesfälle durch die Grippe erfasst. Hier zeigt sich die Schwierigkeit historischer Vergleiche: Je nachdem, welche Quelle man heranzieht, hat die erste Russische Grippe fast gleich viele oder deutlich weniger Opfer gefordert als Covid-19. Sicher ist: Die Schweiz blieb von vielen Pandemien mehr oder weniger verschont – umso härter trifft sie nun die aktuelle Krise, wie unsere Übersicht zeigt:
Vor 130 Jahren brach mit der sogenannten Russischen Grippe die erste globale Pandemie aus. Laut Zeitgenossen wurde das Virus erstmals 1889 in Usbekistan entdeckt. Per Zug und Schiff breitete es sich über Russland nach Europa und schliesslich auch nach Übersee aus. Es forderte in mehreren Wellen etwa eine Million Todesopfer weltweit. In der Schweiz wütete die Pandemie im Jahr 1890, als gemäss dem damaligen Chef des Eidgenössischen Statistischen Büros, Friedrich Schmid, 2624 Menschen an Influenza starben – ein Vielfaches mehr als in normalen Jahren.
Ob es sich wirklich um eine Grippe handelte, ist aber umstritten. So fand eine belgische Forschergruppe um den Virologen Marc van Ranst von der Universität Leuven schon 2005 Indizien dafür, dass die Krankheit nicht von einem Influenzavirus, sondern durch das Coronavirus HCoV-OC43 ausgelöst wurde. Zum selben Ergebnis kam 2020 eine noch nicht publizierte Studie dänischer Forscher um Lone Simonsen, Epidemiologin an der Universität Roskilde.
Auch sonst erinnert vieles der Russischen Grippe an heute: Die Ärzte wussten lange gar nicht, womit sie es zu tun hatten, das Gesundheitswesen war überfordert. Fast täglich berichteten schon damals die Medien über neuste Entwicklungen der Pandemie in aller Welt. In Basel und Zürich, wo die ersten Fälle Anfang Dezember 1889 festgestellt wurden, gab es Schulschliessungen, Veranstaltungen wurden abgesagt. So konnte wohl noch Schlimmeres verhindert werden.
An der Spanischen Grippe, die durch ein besonders virulentes Influenzavirus vom Subtyp A/H1N1 verursacht wurde, starben in der Schweiz 1918/19 fast 25’000 Menschen bei damals 4 Millionen Einwohnern. Es war eine der schlimmsten Katastrophen in der Schweizer Geschichte. Weltweit raffte die Spanische Grippe je nach Schätzung 20 bis 100 Millionen Menschen dahin – deutlich mehr, als im Ersten Weltkrieg starben.
Schätzungen zufolge steckten sich in der Schweiz rund zwei Millionen Menschen an, was der Hälfte der damaligen Bevölkerung entspricht. Die erste Ansteckungswelle von Mai bis August 1918 verlief relativ glimpflich. Die zweite Welle, die von September 1918 bis Mai 1919 dauerte und im November ihren Höhepunkt erreichte, forderte massiv mehr Todesopfer. Wie beim aktuellen Coronavirus traf die erste Welle damals hauptsächlich die Westschweizer Kantone, die zweite erfasste die ganze Schweiz.
Besonders auffällig: 70 Prozent der Todesopfer waren zwischen 20 und 49 Jahre alt, auch solche in gutem körperlichem Zustand. Die Kranken bekamen neben üblichen Grippesymptomen Flecken im Gesicht, spuckten Blut, ihre Körper verfärbten sich violett, am Ende erstickten viele. Bei älteren Personen war praktisch kein Anstieg der Todesfälle festzustellen. Anders bei den 20- bis 39-Jährigen: 1917 gab es 6000 Grippetote, ein Jahr später waren es rund 20’000. Somit starben 1918 mehr junge Erwachsene als ältere Personen.
Der Massnahmenkatalog im Kampf gegen das Virus war ähnlich wie heute: Schulen, Kinos, Kirchen und Märkte blieben geschlossen, Versammlungen und Spitalbesuche waren verboten. In Trams durfte man nur noch sitzen. Tanz-, Theater- und Konzertaufführungen wurden abgesagt. Alle öffentlichen Telefone wurden einmal täglich mit Formalin desinfiziert. Militärbaracken und Schulhäuser wurden zu Notfallspitälern umfunktioniert. Das Pflegepersonal schob Sonderschichten bis zur Erschöpfung. Offen blieben die Restaurants mit reduzierter Bestuhlung. Der Verkauf von Gesichtsmasken, Desinfektionsmitteln und Särgen boomte.
Eine kürzlich publizierte Studie eines Forschungsteams der Universitäten Zürich und Toronto zeigt, dass die Schweiz am Beispiel des Kantons Bern 1918 ähnlich hilflos agierte wie heute bei der Corona-Pandemie. Gleich wie im vergangenen Herbst der Bundesrat zögerten auch 1918 die Berner Kantonsbehörden mit Massnahmen gegen die zweite Welle. Das Argument war fast identisch: Man fürchtete die wirtschaftlichen Folgen. Der Kanton Bern überliess in der Folge die Verantwortung den einzelnen Gemeinden. Ein Déjà-vu: Es kam zu einem Flickenteppich mit lokal sehr unterschiedlich starken Eingriffen. Für die Forscher war dies der Hauptgrund, wieso die zweite Welle anschliessend viel stärker ausfiel und 80 Prozent der Opfer der Spanischen Grippe forderte.
Die Medizin war damals weitgehend machtlos und probierte vieles aus: Aspirin mit Chinin, das schon gegen Malaria wirkte. Zum Einsatz kamen auch Arsen, Quecksilber und sogar Morphium und Heroin. In der Schweiz konzentrierten sich die Anstrengungen auf die Pflege der Kranken. Die Pandemie sorgte für einen fast kompletten Zusammenbruch des Gesundheitswesens.
Der Ursprung der Pandemie ist bis heute ungeklärt. Eine Hypothese besagt, er sei in den USA erstmals aufgetaucht und von dort von amerikanischen Soldaten, die zur Verstärkung der Alliierten nach Europa kamen, eingeschleppt worden. Eine andere situiert den Ursprung im Fernen Osten, von wo die meisten Grippeepidemien stammen. Ihren Namen bekam die Spanische Grippe, weil Spanien keinen Hehl aus den vielen Krankheitsfällen machte und besonders schwer betroffen war.
Nach der Spanischen Grippe dauerte es fast vierzig Jahre, bis wieder ein neuartiges Influenzavirus auftrat, gegen das ein Grossteil der Bevölkerung nicht immun war: 1957 wurden in China die ersten Krankheitsfälle durch den Subtyp A/H2N2 registriert. Über den internationalen Schiffsverkehr verbreitete sich das Virus nach Europa und löste eine Pandemie aus. Bis 1958 infizierten sich rund 20 Prozent der Weltbevölkerung mit der sogenannten Asiatischen Grippe, also etwa 580 Millionen und damit mehr als bei der Spanischen Grippe.
Trotzdem starben nur etwa 1,1 Millionen Menschen weltweit. Der Virusstamm war viel weniger gefährlich als noch bei der Spanischen Grippe. Gleichzeitig war die Gesundheitsversorgung mittlerweile besser, die Medizin hatte grosse Fortschritte gemacht. Zudem wurde schnell eine Impfung gegen das H2N2-Virus entwickelt, die auch in der Schweiz zum Einsatz kam.
Hierzulande gab es lediglich eine leichte Zunahme an Todesfällen, die Asiatische Grippe verlief also glimpflich. Genaue Zahlen zu Infektionen und Opfern findet man aber nicht. Die Pandemie hatte hierzulande schlicht zu wenig Auswirkungen, als dass man sie wirklich erfasst und aufgearbeitet hätte. Ein Team des Instituts für Evolutionsmedizin an der Universität Zürich will das bald ändern (siehe Box weiter unten).
Noch bis 1968 verursachte das Virus der Asiatischen Grippe alljährlich weitere Infektionen. Danach wurde H2N2 durch einen neuen Subtyp abgelöst und verschwand. 2005 kam es in den USA allerdings zu einem Zwischenfall, als H2N2-Virusproben versehentlich an mehrere Labors verschickt wurden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ordnete die sofortige Vernichtung der Proben an und konnte so neuerliche Infektionen verhindern.
Die als Hongkong-Grippe bezeichnete dritte Influenza-Pandemie des 20. Jahrhunderts brach im Sommer 1968 mutmasslich in Hongkong aus. Von da aus breitete sie sich zuerst in Asien und bis Ende Jahr auf der ganzen Welt aus, unter anderem durch US-Soldaten, die aus dem Vietnamkrieg heimkehrten. Beim Virus handelte es sich um eine Mutation des A/H2N2-Virus, das zehn Jahre zuvor die Asiatische Grippe verursacht hatte und jetzt durch den Subtyp A/H3N2 verdrängt wurde.
Wieder starb geschätzt 1 Million Menschen weltweit. Zur Schweiz gibt es keine genauen Zahlen. In den Jahren 1968 bis 1970 wurden aber nur unwesentlich mehr Grippetote gezählt. Ein Grund könnte sein, dass die Immunabwehr mancher Menschen schon Antikörper gegen die ursprüngliche Version des Virus enthielt.
Eine entscheidende Rolle bei der Eindämmung der Pandemie spielte auch die Entwicklung eines Impfstoffs gegen H3N2 durch den US-Mikrobiologen Maurice Hilleman. Zudem waren wie schon bei der Asiatischen Grippe die medizinischen Möglichkeiten grösser, Erkrankte zu behandeln.
Im Gegensatz zu H2N2 verschwand der Subtyp H3N2 aber nicht mehr und zirkuliert seither weltweit als einer der Stämme der saisonalen Grippe. H3N2-Viren, die bei älteren Menschen schwere Erkrankungen verursachen können, durchlaufen regelmässig sogenannte Antigendrifts. Das heisst, sie mutieren – genauso wie andere Influenza-A-Viren. Grippe-Impfstoffe müssen aus diesem Grund jährlich den neuen Antigentypen angepasst werden.
Auch wenn sie denselben Namen trägt, hat diese Pandemie nichts mit der ersten Russischen Grippe neunzig Jahre vorher zu tun. Die Sowjetunion war einfach das erste Land, das der WHO einen Ausbruch meldete, deshalb die Bezeichnung. Erstmals isoliert wurde das Influenzavirus im Mai 1977 in Nordchina, bis Januar 1978 hatte es sich weltweit verbreitet.
Es handelte sich um den Subtyp A/H1N1, der einst auch die Spanischen Grippe verursachte. Mit geschätzten 700’000 Todesfällen weltweit verlief die Pandemie aber weitaus glimpflicher und wurde deshalb auch nicht wirklich erfasst. Genaue Zahlen zu Ansteckungen findet man nicht. In der Schweiz führte die Pandemie laut dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zu keiner merklichen Übersterblichkeit. Denn betroffen waren dieses Mal vor allem Kinder und Jugendliche, die weniger anfällig für schwere Verläufe sind.
Forscher vermuten, dass die nach 1957 Geborenen keinen Immunschutz gegen H1N1 hatten, weil der Subtyp damals von H2N2 verdrängt wurde (und dieser 1968 wieder durch H3N2). Während der zweiten Russischen Grippe entwickelten Wissenschaftler dann den ersten trivalenten Impfstoff, der sowohl Bestandteile der A-Stämme H1N1 und H3N2 enthielt als auch einen Stamm vom Typ B.
Die Infektionskrankheit Sars (Severe Acute Respiratory Syndrome) wurde von Coronaviren verursacht und tauchte zwischen November 2002 und Mai 2004 in zahlreichen Ländern vor allem in Südostasien auf. Weltweit steckten sich aber nur rund 8000 Personen mit dem Virus Sars-CoV-1 an, das in fast 10 Prozent der Fälle tödlich war. Weil die Erkrankten durch das schwere Atemwegssyndrom hohes Fieber entwickelten, konnten sie schnell isoliert werden. Vermutlich war das Virus auch weniger ansteckend als Sars-CoV-2.
Die Schweiz kam glimpflich davon: Zwar gab es im Frühjahr 2003 rund 30 Verdachtsfälle, wie das BAG rückblickend schreibt. Doch bei keinem dieser Patienten konnte das Virus nachgewiesen werden. In der Schweiz gab es also keinen einzigen Sars-Fall. Seit Mitte 2004 auch weltweit nicht mehr.
Trotzdem hatte die erste Pandemie des 21. Jahrhunderts grosse Auswirkungen: Internationale Gesundheitsvorschriften wurden überarbeitet. Die EU baute 2003 ein Zentrum für Krankheitsprävention auf, das heutige European Centre for Disease Control (ECDC). Und die Schweiz beschloss parallel dazu die Totalrevision ihres Epidemiengesetzes.
«Neue Grippe», «Amerikagrippe», «Mexikanische Grippe»: Die Pandemie in den Jahren 2009 und 2010 hatte viele Namen, durchgesetzt hat sich aber «Schweinegrippe», weil man zu Beginn annahm, dass sie von Schweinen auf Menschen übertragen wurde. Es handelte sich um eine neuartige, mutierte Form des A/H1N1-Virus, das auch schon die Spanische Grippe verursachte. Glücklicherweise steckten sich aber viel weniger Menschen an als damals.
Insgesamt wurden der WHO gut 491’000 laborbestätigte Fälle und 18’000 Todesfälle gemeldet. Verschiedene Forscher gehen allerdings von einer hohen Dunkelziffer und deshalb viel höheren Zahlen aus. Eine Studie des amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) zum Beispiel schätzt, dass die Schweinegrippe 150’000 bis 575’000 Opfer gefordert hat.
In der Schweiz erkrankten im Vergleich zur normalen, saisonalen Grippe weniger Ältere, dafür häufig jüngere Menschen mit geringerem Risiko eines schweren Verlaufs. Deshalb gab es nur 20 Todesfälle – viel weniger als befürchtet. Das BAG hatte vor der Pandemie gewarnt und für 80 Prozent der Bevölkerung Impfstoffe gekauft. Weil sich aber nur 17 Prozent impfen liessen, musste ein Grossteil der Dosen entsorgt werden. Kritik wurde laut, unnötig Angst geschürt und Steuergelder verschleudert zu haben. Die Schweinegrippe förderte ein Misstrauen gegenüber den Behörden.
«Das lange Ausbleiben gefährlicher Pandemien hat zu einer Katastrophen-Gedächtnislücke geführt.»
Kaspar Staub
Nach der Spanischen Grippe von 1918/19 wurde die Schweiz hundert Jahre lang nicht mehr von einer schweren Pandemie heimgesucht. Es gab zwar immer wieder Infektionskrankheiten, die sich weltweit rasch und stark ausbreiteten (Asiatische Grippe, Hongkong-Grippe, Russische Grippe, Sars, Schweinegrippe). Doch hierzulande führten sie zu keinem markanten Anstieg der Todesfälle und wurden deshalb nicht als unmittelbare Gefahr wahrgenommen. Kaspar Staub und seine Kollegen vom Institut für Evolutionsmedizin der Universität Zürich sprechen in diesem Zusammenhang von einem «Pandemie-Gap».
«Das Ausbleiben gefährlicher Pandemien über einen längeren Zeitraum hat das Risikobewusstsein der Bevölkerung beeinflusst», sagt Staub. «Es hat zu einer Art pandemischen Katastrophen-Gedächtnislücke geführt.» Laut dem Forscher ist es ganz natürlich, dass Erfahrungen nach zwei oder drei Generationen aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden. Welche Auswirkungen eine Pandemie haben kann, hatte die Schweizer Bevölkerung vergessen – bis die aktuelle Corona-Krise ausbrach.
Dieses fehlende Bewusstsein hatte sicher auch mit der sinkenden Sterblichkeitsrate aufgrund von Influenza in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert zu tun. Durch den steigenden Lebensstandard, die bessere Gesundheitsversorgung und die Entwicklung von Impfstoffen verlor die saisonale Grippe ihren Schrecken. Gleichzeitig wurden globale Infektionskrankheiten wie die Asiatische Grippe, die Hongkong-Grippe und die Russische Grippe in der Schweiz gar nicht richtig erfasst, weil sie glimpflich verliefen. Staub und sein Team wollen diese historischen Pandemien nun genauer aufarbeiten und haben ein neues Forschungsprojekt gestartet.
Ende 2019 tauchten in der chinesischen Stadt Wuhan die ersten Meldungen über eine mysteriöse Lungenerkrankung auf. Schnell stellte sich heraus, dass das dafür verantwortliche Coronavirus Sars-CoV-2 hoch ansteckend ist. Innert weniger Wochen verbreitete es sich von China aus auf der ganzen Welt aus. Nun, gut ein Jahr später, sind gemäss dieser Übersicht schon mehr als 3 Millionen Menschen im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben.
In der Schweiz gab es bis zum 28. April 2021 über 648’000 Infektionen und fast 10’600 Todesfälle. Während der ersten und zweiten Welle kam es zu einer Übersterblichkeit, es starben also deutlich mehr Menschen als normalerweise in dieser Jahreszeit – trotz Lockdowns, Einschränkungen und Schutzmassnahmen. Nicht vergessen darf man auch, dass die Menschen, gerade die älteren, heute viel gesünder sind als früher. Zudem hat die Medizin grosse Fortschritte gemacht, bei Impfungen und Behandlungsmethoden.
Dennoch hat Covid-19 schon jetzt mehr Opfer gefordert als alle bisherigen Pandemien in der Schweiz, mit Ausnahme der Spanischen Grippe. Oft haben Infektionskrankheiten nur kurz gewütet, die erste Russische Grippe zum Beispiel im Januar 1890. Die aktuelle Corona-Krise aber zieht sich schon seit Monaten hin – und es ist kein Ende in Sicht.